- Friedensnobelpreis 1920: Léon Victor Bourgeois
- Friedensnobelpreis 1920: Léon Victor BourgeoisDer französische Staatsmann hat sich als einer der Begründer des Völkerbunds und durch seine Leistungen auf den beiden Haager Friedenskonferenzen um den Weltfrieden verdient gemacht.Léon Victor Auguste Bourgeois, * Paris 29. 5. 1851, Château d'Oger (bei Épernay) 29. 9. 1925; 1888 Abgeordneter bei den Radikalsozialisten, 1890-1917 Staatssekretär und Minister, 1895-96 Ministerpräsident, 1899 und 1907 Leiter der französischen Delegationen auf den Haager Friedenskonferenzen, 1903 Mitglied des Ständigen Schiedshofs in Den Haag, 1905-23 Senator und Senatspräsident, 1920-23 Vorsitzender des Völkerbundrats.Würdigung der preisgekrönten LeistungIm Spätherbst 1920 zeichnete das Osloer Nobelpreiskomitee zwei Staatsmänner als maßgebliche Initiatoren derselben Institution aus: Thomas Woodrow Wilson, 28. Präsident der USA, erhielt den Friedensnobelpreis des Jahres 1919, und Léon Victor Bourgeois, der in einer langen politischen Laufbahn bis in die höchsten Ämter der dritten französischen Republik aufgestiegen war, wurde mit dem Preis des Jahres 1920 ausgezeichnet. Das Komitee würdigte damit die Leistungen der zwei Politiker bei der Errichtung des Völkerbunds, den der Franzose bereits 1910 in seinem Buch »Pour la Société des Nations« (französisch; für den Völkerbund) gefordert hatte und der fast ein Jahrzehnt später als letzter Punkt des Vierzehn-Punkte-Friedensprogramms des Amerikaners schließlich zustande kam. Für beide Männer, die wenige Jahre nach der Preisverleihung starben, war die Gründung der Staatengemeinschaft der Höhepunkt ihrer steilen politischen Karrieren. Beide folgten hohen Idealen, setzten sich 1918/19 nach dem Ende des Ersten Weltkriegs während der Vorbereitung der Pariser Friedenskonferenzen und später dann am Verhandlungstisch mit all ihrer Kraft für die Idee des Völkerbunds ein. Zugleich aber hielten sie mit demselben Starrsinn an ihren Vorstellungen fest — was erfahrungsgemäß zu Streit führen kann und der Sache nicht immer förderlich ist. So hatte sich das zuvor gute kollegiale Verhältnis bis zum Dezember 1920 deutlich verschlechtert. Wilson und Bourgeois, einst am Verhandlungstisch noch Verbündete, waren jetzt fast Gegner geworden. Mit diesen persönlichen Problemen deuteten sich auch die politischen Probleme an, die die Arbeit des Völkerbunds in den folgenden Jahrzehnten belasten sollten. Wilson gelang es nicht, jenseits des Atlantiks durch einen Kompromiss die Vorbehalte führender US-Politiker gegen die Völkerbundsatzung abzubauen. Die Vereinigten Staaten traten dem Völkerbund nie bei. Und diesseits des Atlantiks konnte die Staatengemeinschaft in der Realität die Politik der Großmächte weit weniger beeinflussen, als es sich ihre idealistisch gesinnten Väter vorgestellt hatten.Eine BilderbuchkarriereWilson und Bourgeois gehörten zur selben Generation, waren sich auf der einen Seite in manchem sehr ähnlich, etwa in ihrer Beharrlichkeit und ihrem Idealismus, auf der anderen Seite aber auch grundverschieden. Der Amerikaner wirkte in der Öffentlichkeit stets gehemmt und spröde; der Franzose war dagegen ein brillanter Redner mit Charisma, auch künstlerisch begabt, und wenn er sich in Kabinettssitzungen langweilte, soll er, wie berichtet wird, Karikaturen der Kollegen gezeichnet haben. Er hatte im Hauptfach Jura studiert, darüber hinaus galt sein Interesse aber zahlreichen anderen Gebieten, etwa der Kultur Südasiens, der Musik oder Bildhauerei. Bourgeois war also ein Mann, der nicht eingleisig auf eine bestimmte Laufbahn festgelegt war und es sich leisten konnte, verlockende Angebote auszuschlagen, und der trotzdem anscheinend ohne großen persönlichen Ehrgeiz eine glänzende Karriere als Politiker durchlief.Als Kind einer armen Uhrmacherfamilie zählte Léon Victor Bourgeois zu der Gesellschaftsschicht, in der die Kommunisten, Marxisten und Sozialisten ihre Anhänger fanden. Nach dem steilen Aufstieg zu führenden Positionen im öffentlichen Dienst, unter anderem zum Polizeipräfekten von Paris oder Personaldirektor des Innenministeriums, schloss sich der vielseitig begabte Mann den Radikalsozialisten an, wurde schon bald nach der Wahl in die Nationalversammlung zum stellvertretenden Staatssekretär ernannt, war über drei Jahrzehnte hinweg mehrfach Minister in verschiedenen Ressorts und 1895/96 für allerdings nur recht kurze Zeit Ministerpräsident. Vermutlich wäre Bourgeois auch bis zum Staatspräsidenten aufgestiegen (eine sichere Kandidatur wurde ihm zweimal angeboten), doch ab der Mitte der 1890er-Jahre reizten ihn offenbar die Aufgaben auf internationaler Ebene mehr.Nationale und internationale SolidaritätSein erstes größeres Werk, eine Sammlung von Zeitungsartikeln, die der französische Politiker 1896 veröffentlichte, trägt den Titel »Solidarité« — ein Begriff, der seit dem 19. Jahrhundert in der Arbeiterbewegung eine zentrale Rolle spielt. Für Bourgeois bedeutete Solidarität allerdings stets mehr als die Interessensolidarität der Arbeiterklasse, sie war für ihn vielmehr eine Art Klammer, die die verschiedenen Gesellschaftsschichten eines Landes und über die Staatsgrenzen hinweg die gesamte Menschheit zusammenhielt. In seiner kurzen Amtszeit als Ministerpräsident trat er deshalb vor allem für eine gerechtere, »solidarische« Verteilung der Steuerlasten nach dem Einkommen ein, regte Verbesserungen im Gesundheitswesen und eine Altersrente für Arbeiter an. Solche Pläne mussten auf den Widerstand der Konservativen stoßen und führten nach noch nicht einmal sechs Monaten zum Sturz der Regierung.Auf erheblichen Widerstand stießen auch die Pläne zur Abrüstung und zur friedlichen Beilegung internationaler Streitigkeiten, die 1899 und 1907 auf den beiden Haager Friedenskonferenzen erörtert wurden. Auf eine mehr als unverbindliche Erklärung zur wünschenswerten Rüstungsbegrenzung konnten sich die Delegierten der in Den Haag vertretenen Staaten nicht einigen; erfolgreicher waren sie in der Frage der Errichtung eines Ständigen Schiedshofs, und an diesem Erfolg hatte Léon Victor Bourgeois, der die betreffenden Kommissionen auf den Konferenzen als Vorsitzender leitete, einen großen Anteil. Ab 1903 gehörte er selbst zu den Mitgliedern des Schiedshofs.Gemessen an den hohen Erwartungen der Friedensbewegung waren die Ergebnisse der Haager Friedenskonferenzen enttäuschend. Dennoch stellten die Konferenzen wichtige Meilensteine auf dem Weg zum Völkerbund, dem Vorläufer der Vereinten Nationen, dar. Diesem Ziel widmete Léon Victor Bourgeois in verschiedenen Funktionen die beiden letzten Jahrzehnte seines Lebens, unter anderem als Jurist, der den Entwurf der Völkerbundsatzung mitgestaltete, und schließlich als erster Vorsitzender des Völkerbundrats.In den wenigen Jahren, in denen er trotz angegriffener Gesundheit im Völkerbund arbeiten konnte, war der Optimismus noch groß, internationale Konflikte friedlich beilegen zu können, wie den Streit zwischen Finnland und Schweden über die Ålandinseln, der 1921 während Bourgeois' Amtszeit geschlichtet wurde. Schon zwei Jahre später, beim Einmarsch französischer Truppen ins Ruhrgebiet und bei der Bombardierung der griechischen Insel Korfu durch italienische Flugzeuge, sollte sich herausstellen, wie ohnmächtig die Staatengemeinschaft Militäraktionen und Verstöße gegen das Völkerrecht hinnehmen musste.P. Göbel
Universal-Lexikon. 2012.